Gruß und Kuss
Die Pandemie schränkt unser gewohntes Leben ein, unsere persönlichen Begegnungen. Durch digitale Formate können wir trotzdem miteinander kommunizieren, uns sehen, treffen, studieren oder lernen. Doch welche Vorteile hat die Digitalisierung eigentlich sonst noch? Ein Beispiel aus der Wissenschaft ist das digitale Liebesbriefarchiv.
Zeugnisse der Alltagskultur
Nicht nur die Liebesschwüre prominenter Dichter, Künstlerinnen oder Stars sind spannend für die Nachwelt. Andrea Rapp und ihr Team interessieren sich auch für Liebesbekundungen und Briefe, die sich ganz „normale“ Menschen schreiben. Rapp ist Professorin am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt. In einem Forschungsprojekt befasst sich die Sprachwissenschaftlerin – zusammen mit Wissenschaftlern und Forscherinnen der Hochschule Darmstadt, der Universität Koblenz und der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt - mit diesen „Zeugnissen der Alltagskultur“. Sie wollen ein digitales Liebesbriefarchiv aufbauen.
30 Jahre gesammelt
„Gruß und Kuss – Briefe digital“ heißt das Projekt. Zurückgreifen kann das Team dabei auf ein Papierarchiv, das Prof. Eva L. Wyss vom Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau aufgebaut hat. Vor 30 Jahren begründete die Forscherin zunächst an der Universität Zürich die Sammlung, nachdem Privatleute aus der Schweiz und Deutschland ihr nach Aufrufen in den Medien über 6 000 Liebesbriefe für ihre Sprachforschung gespendet hatten. Gemeinsam mit der TU-Professorin Andrea Rapp konnte dieser Bestand seit 2015 auf heute über 20 000 Briefe und Briefwechsel ausgebaut werden. Das analoge Archiv, heute im Besitz der Uni Koblenz, bildet den Grundstock für das gemeinsame Forschungsprojekt.
Einzigartiges Archiv
Im Bestand finden sich Liebesbriefe und Briefwechsel, die normale Leute wie Lieschen Müller, Gustav Meyer oder Urs Schmidt im 19. oder 20. Jahrhundert an ihren „Schatz“ geschrieben haben. Darunter Nachlässe von Großeltern, Eltern, Vorfahren, Bekannten und Verwandten oder auch eigene Briefe, die Spender/innen übergeben haben, „weil sie sie nicht behalten, aber auch nicht wegwerfen wollten“, so Rapp. Die Sammlung der Liebesbekundungen reicht bis in die heutige Zeit – bis hin zu SMS, Emails- und WhatsApp-Nachrichten. Darunter sind auch Schülerbriefe samt der Klassikerzeile „Willst Du mit mir gehen?“. Die Professorin schätzt, dass das Liebesbriefarchiv im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus einmalig ist.
Der Öffentlichkeit zugänglich machen
Der zumeist handschriftliche Bestand soll jetzt gesichtet, übertragen, gescannt und digitalisiert werden. Ziel ist ein digitales Liebesbriefarchiv an der Darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek einzurichten, das künftig von überall in der Welt von der Wissenschaft, aber auch von Bürgern/innen eingesehen und genutzt werden kann. Wer will, kann auch selbst eigene Liebesbriefe für das Archiv spenden, so wie das anfangs bereits in Deutschland und der Schweiz geschehen ist. Für Rapp und ihre Forschungspartner/innen aus Darmstadt und Koblenz sind die Briefe „eine Quelle weitgehend unerschlossener Alltagskultur“, die sie bewahren und ins digitale Zeitalter heben wollen, um es einer breiten Öffentlichkeit und Bürgerforschung zugänglich zu machen.
Sicherung der Geschichte von unten
Den Sprachforschern/innen geht es darum, „einen Ort für die Familien- und Alltagsgeschichte ganz normaler Leute zu finden.“ Interessiert sind sie dabei an der Ausdrucksweise, an Dialekten oder mündlicher Sprache. Wie wird über Emotionen geredet, in welcher Form spiegelt sich der Wandel in Gesellschaft, Krisen oder Kriege wider? Sicherung der Geschichte von unten, nennt Prof. Rapp das.
Loveletters Coding App
Stefan Schmunk, Professor für Informationswissenschaften und Digital Libraries an der Hochschule Darmstadt (h_da), arbeitet ebenfalls als Kooperationspartner im Forschungsprojekt mit. Er entwickelt beispielsweise mit einem Team an der h_da eine App, die das wissenschaftliche Arbeiten mit den digitalisierten Liebesbriefen möglich machen soll. Gedacht ist die App für die breite Bevölkerung. „Wir wollen mit dem digitalen System bürgerliches Forscherinteresse wecken“, sagt er. Und das möglichst spielerisch.